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Halbzeit

Halbzeit! Was soll ich sagen? Wie immer vergeht die Zeit viel zu schnell. Dieses Leben hier gefällt mir sehr gut, wobei ich natürlich bedenken muss, dass ich hier weder arbeite noch einen eigenen Haushalt führen muss. Ich helfe schon viel mit, wasche meine Wäsche, spüle mein Geschirr, räume mein Zimmer auf usw., aber die Mena kocht und einmal die Woche kommt eine Putzfrau und putzt die ganze Wohnung. Trotzdem merke ich, dass mir die Distanz sehr gut tut. Die letzten Monate (und vielleicht auch Jahre) waren sehr voll; Beziehung, Freunde, Studium, Arbeit und viel mehr, da bin ich selber oft viel zu kurz gekommen. Jetzt blühe ich richtig auf und lebe! Und wenn ich nur mal ein paar Stunden irgendwo im Schatten liege und ein Buch lese, oder am Rollenspiel rum feile, ist es für mich eine wahre Energiequelle. Das hätte ich nicht so stark erwartet. Vielleicht sollte ich das regelmäßig machen, damit ich immer wieder volle Reserven hab!

Gestern habe ich einen puren WM-Tag eingelegt. Diese Woche versuche ich mal, mit Hilfe meines Weckers morgens schon um halb neun aufzustehen, um ein bisschen mehr vom Tag zu haben, weil man mittags ja leider nichts machen kann (außer in der Wohnung lesen und schreiben). Aber bisher hatte ich damit noch keinen Erfolg. Weder gestern noch heute konnte ich mich aus dem Bett quälen. Ich werde es weiter probieren, aber ich fürchte, es wird bei zwanzig nach zehn bleiben!

Aber weiter im Text: Nach einem gemütlichen Mittagessen, ein bisschen Körperpflege und kurzem Besuch im Internet bin ich mit Rucksack in die Stadt gefahren, um Brasilien zu gucken. Für die Großleinwand war’s entschieden zu heiß, deswegen bin ich in eine italienische Bar gegangen, wo gleichermaßen viel Brasilianer und Ghanaer saßen. Mittlerweile hat fast jede Bar SKY im Programm (man kann es auch nur für einzelne Spiele buchen) und so ist die Auswahl etwas größer. Auch ein paar Leinwände sind dazu gekommen. Die Stimmung war nett, aber natürlich nicht mit der Leinwand vergleichbar. Das Spiel war auch schön, aber ein bisschen zu einseitig für meinen Geschmack, obwohl die Afrikaner sehr gut mitgehalten haben, das mussten selbst die Brasilianer zugeben.

Danach bin ich für ein bisschen Sonne in die Cascine gelaufen, und hab am Arno-Ufer gelesen und geschrieben, und meine beiden Handtücher gegen die Ameisen verteidigt. Dann habe ich mir in der Nähe eine leckere Pizza Margherita geholt und bin mit dem Bus zur Leinwand gefahren. Was für eine Stimmung, wie viele Menschen. Ich würde fast behaupten, dass mehr Leute da waren, als beim Italien-Spiel, oder sie waren nur lauter. Es waren fifty-fifty Spanien- und Frankreich-Tifosi da, und wir erlebten eine sehr packende und bis zum Schluss spannende Partie mit einem wunderschönen Tor von Zidane. Ich traf mal wieder auf eine Gruppe Amerikaner – was auch sonst – und wir tranken noch ein paar Bier, bis sie mit ihrem Bus ins Hotel fuhren. Danach noch ein gemütlicher Fußmarsch nach Hause, ein Stündchen Buch lesen mit Enigma-Musik und gegen zwei schön in die Heia, um mal früh aufstehen zu können, aber wie gesagt: no chance!

Cascine

Sie wollte es so. Bei mir darf jeder machen, was er will. Sie hat es selbst so gewollt. Da kann ich auch nichts für. Jetzt ist sie tot.

Letzte Nacht nach dem Schreiben lag ich ganz unbedarft im Bett und hatte so das Buch in meinen Händen, da spürte ich plötzlich einen kaum wahrnehmbaren Schmerz auf dem rechten Oberschenkel. Geistesgegenwärtig haute ich zu und erwischte das Miststück voll auf die Zwölf. Die angebliche Kapitulation war wohl nur eine Finte gewesen, um mich in Sicherheit zu wiegen. Eine Nacht Ruhe und dann: Hinterhältiger Angriff, ganz unsportlich. Aber ich bin da schließlich kein Anfänger mehr. So nicht! Nicht mit mir!

Heute hat mich mein innerer Wecker (ist kein Witz) wieder pünktlich um zwanzig nach zehn aus den Federn geholt. Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der Terrasse – Schoko-Müsli mit Pfirsichen, Nuti-Brot, Marmeladen-Croissant und Milchkaffee – schaffte ich es dann auch mal vor der Mittagspause aus dem Haus. Der Himmel war ein wenig bewölkt, aber die Mittagshitze drückte trotzdem ganz schön. So kam ich schon halb durchgeschwitzt um halb Eins im Centro TIM an, und konnte mir endlich eine Prepaid-Karte fürs Handy kaufen. Also, ab jetzt bin ich tagsüber (ab zwanzig nach zehn) unter folgender italienischer Nummer erreichbar:

0039-339-8859927

Die deutsche Karte werde ich nur noch abends einlegen, um eventuelle SMS zu lesen.

Die eine Stunde außer Haus hatte mich schon so müde gemacht, dass ich mich erstmal wieder in der dunklen, kühlen Wohnung verkroch, um ein bisschen am Rollenspiel zu arbeiten. Ich hab eben in den Nachrichten mitbekommen, dass das wohl der Scirocco-Wind ist, der so auf Italien drückt. In Sizilien haben sie schon fast vierzig Grad tagsüber! Aber die Mena hat es echt raus, die Wohnung kühl zu halten. Die macht morgens schon alle Fenster zu und die Rollläden runter, so dass die Sonne gar keine Chance hat, mit ihrer Wärme ins Innere zu gelangen. So haben wir hier auch mittags noch angenehme 24-25 Grad. Ich hab heute mitbekommen, dass es in Köln wohl wieder am regnen ist. Tja, perfekt geht wohl nie. Hier zu heiß, zu Hause regnet‘s. Verrückte Welt!

Heute Nachmittag bin ich wieder in die Cascine gepilgert. Diesmal nicht im Jogging-Dress sondern mit Handtüchern, Picknick, Musik, Buch und Ringbuch bewaffnet. Auf dem Weg hab ich noch versucht, nen APS-Film zu kaufen, aber der Fotoladen um die Ecke hatte nur die herkömmlichen, und in die Stadt wollte ich nicht laufen. Na, da werd ich wohl morgen früh noch schnell in die City flitzen, bevor mich der Francesco abholt. In den Cascine suchte ich mir dann ein schönes sonniges Plätzchen am Arno-Ufer, wo ich ungestört lesen und schreiben konnte. Na ja, so richtig ungestört war ich nicht. Immer wieder krabbelte und kroch es auf mir herum und ich nahm noch ein paar weitere kleine, juckende Insektenstiche mit nach Hause. Zum Glück haben Mena und Lorenzo ne gute Anti-Juck-Creme im Bad stehen.

In den Cascine blieb ich bis um Sieben, dann ging ich doch noch kurz in die Stadt, aber ein viel versprechender Fotoladen hatte schon zu und ein anderer hat wegen Ferien geschlossen. In der Hauptsaison? Viel mehr gab‘s heut nicht. Zum Abendessen hat die Mena lecker Omelette mit Mozzarella gemacht und Argentinien hat 6:0 gegen Serbien-Montenegro gewonnen. Morgen fahr ich mit Francesco ans Meer. Da freu ich mich schon riesig drauf. Und morgen Abend gibt‘s Italien gegen die USA garantiert auf Großleinwand!

Francesco

Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Heute war echt ein erlebnisreicher Tag. Eigentlich wollte ich von den vielen Schwulen in den Cascine erzählen, aber dann saß so einer beim Abendessen direkt neben mir und wird mir in den nächsten vier Wochen Italienisch beibringen! Na gut, ich mach das ganze mal ein bisschen chronologisch!

Gestern Abend habe ich mich also auf den Weg zur versprochenen Großleinwand gemacht. War leider wieder Fehlanzeige. Auf dem Platz vor Santo Spirito gab es nur eine Bühne für Live-Musik. Hm, nicht so ganz, was ich gesucht hatte. Aber auf dem Weg dorthin lief ich an einem Irish Pub vorbei, das das Spiel zeigte. Das war nur ein paar hundert Meter entfernt, direkt zwischen Ponte Vecchio und Santo Spirito und nannte sich verheißungsvoll “Friends“. Das Bier gab es allerdings nicht zum Freundschaftspreis, sondern 0,4 Liter für unsportliche 4,50€. Da musste ich erst einmal schlucken. Ich stellte mich an einen Tisch zu einem Pärchen so um die dreißig, die, wie sich herausstellte, aus Polen kamen und gut deutsch sprachen. Im Laufe des Spiels merkte ich schnell, dass die anderen Trinkgenossen alle fast ausschließlich aus Deutschland kamen. Selbst das Pärchen an meinem Tisch wohnt in Hannover. Na ja, die Armen mussten in der letzten Minute alle WM-Hoffnungen der Polen platzen sehen. Und das obwohl der polnische Torwart doch so gut gehalten hatte und so ein drei oder sogar vier zu null verhindert hatte. Nach dem Spiel war dann leider mein Kleingeld ausgegeben. Ich nehme immer nur ein paar Euro mit in die Stadt, weil ich doch ein bisschen Respekt vor Taschendieben hab. Die Stadt ist schon ziemlich voll von Menschen – ist schließlich gerade Hauptsaison – und da muss man ein wenig vorsichtig sein. Von den anderen Deutschen hab ich erfahren, dass auf dem Piazzale Michelangelo hoch über der Stadt wohl tatsächlich eine Großleinwand stehen soll. Na, ich bin gespannt!

Mena und Lorenzo waren gestern Abend im Theater und kamen erst recht spät, sogar nach mir zurück, obwohl heute in Italien kein Feiertag war. Die Mücke hat gestern aus dem Waffenstillstand scheinbar eine bedingungslose Kapitulation gemacht. In der Nacht gab es jedenfalls keine Zwischenfälle mehr. Erst heute Abend auf der Terrasse wurde ich erneut gestochen. Mein innerer Wecker funktioniert prima. Obwohl die Sonne schon ziemlich früh von der Terrasse in mein Zimmer scheint, weckt er mich erst so gegen zehn, halb elf. Eine perfekte Zeit, um aufzustehen. Heute hab ich mir zum Mittagessen ein paar Tortiglioni mit Menas leckerer Tomatensoße von gestern Abend gemacht und auf der Terrasse mit angenehmem Chill- House verdrückt. Lorenzo kam schon so gegen zwei von der Arbeit und fuhr kurz darauf weiter zu seiner Mutter, die schon 93 Jahre alt ist (!) und ab und zu ein bisschen Hilfe gebrauchen kann. Die Mittagshitze hier ist einfach unerbärmlich, und so blieb ich dann auch bis kurz vor vier in der Verhältnismäßig kühlen Wohnung und schrieb ein bisschen für unser Rollenspiel.

Ich hatte mir vorgenommen, heute eine Prepaid-Karte von der italienischen Telekom für mein Handy zu kaufen, weil meine Eltern die auch von denen haben, aber das war leider nicht so ganz einfach. Die kleinen Läden hatten alle von eins bis um vier Mittagspause, aber so genau mit der Zeit nimmt das hier niemand, und so hatten die Geschäfte alle um kurz nach vier noch geschlossen. Da es aber noch viel zu heiß zum draußen warten war, ging ich in den großen Oviesse an der Piazza hier im Viertel, der keine Mittagspause macht, und schaute mir ein paar Oberteile an. Eigentlich wollte ich mir noch nichts kaufen, weil ich ja noch ein bisschen hier bin, aber da gab es ein Hemd, das musste ich einfach anprobieren, und so bin ich froh, dass ich mit zwei nicht ganz vollen Taschen angereist bin. Da wird sicherlich noch mehr folgen. Um viertel nach Vier hatten dann die Läden auf, nur leider verkaufte der eine Telefonladen nur Vodafone und der zweite nur Wind, aber die Dame sagte mir zum Glück, wo ich einen Laden finden würde, der auch TIM (Telecom Italia Mobile oder so ähnlich heißt das) verkauft. Aber der hatte leider auch um kurz vor halb fünf noch nicht offen, und so kaufte ich mir eine Flasche Cola im Tabacchi nebenan und wartete in der immer noch prallen Sonne auf den Ladenbesitzer. Als der halbe Liter bereits wieder ausgeschwitzt, der werte Herr um kurz vor fünf immer noch nicht anwesend und meine Füße schon von Verbrennungen fünften Grades gezeichnet waren, entschloss ich mich dann doch, wieder nach Hause zu gehen.

Meine Tante, die inzwischen auch von der Arbeit gekommen war, nahm mich mit zum Einkaufen in den COOP um die Ecke. Dort kauften wir die Zutaten für den Festschmaus heute Abend und ein paar Köstlichkeiten für mich: Schoko-Müsli, gefüllte Croissants und Nutella fürs Frühstück. Im COOP haben die ein interessantes System. Wenn man sich registrieren lässt, kann man am Eingang ein kleines Gerät ausleihen, mit dem man die Waren direkt beim Einladen in den Einkaufswagen scannt. So sieht man direkt, wie viel man zahlen muss und an der Kasse gibt man einfach das Gerät ab und zahlt den Einkauf, den man bequem im Wagen lassen kann. Kontrolliert wird das wohl nur durch Stichproben.

Nach dem Einkauf bin ich dann zum ersten Mal Laufen gegangen. Mena hatte mir hierfür die Cascine empfohlen, ein großer Park direkt am Arno und ca. 3 km von der Wohnung hier entfernt. Die Cascine sind ein bekannter Treffpunkt für Homosexuelle, und so liefen mir dutzende gut gebaute, absolut stylische junge Bengel entgegen, die hier scheinbar auf Beutezug waren. Na ja, vielleicht waren die nicht alle schwul, und das ist nur ein italienisches Phänomen, denn selbst die vielen Frauen, die sich dort sportlich betätigten waren im neuesten Trend. Überall sah man nur Muskelshirts (wenn überhaupt), bauchfreie Sport-Tops, hochgebundene Sporthosen, MP3-Player um den Oberarm und wirklich jeden zweiten Sportler mit Handy in der Hand oder Bluetooth im Ohr am Telefonieren. Unglaublich! Da bin ich als Normalo richtig aufgefallen, mit 0-8-15- Laufdress und vier Jahre altem MiniDisk-Spieler. Und ein Tempo hatten die drauf! Selbst die alten Opas (auch größtenteils mit Handy) zogen mich locker ab. Na gut, die sind wahrscheinlich auch die Hitze gewohnt, die trotz sieben Uhr abends immer noch über den Straßen flimmerte.

Bruna (die Cousine meines Vaters) und Mario (ihr Mann), die heute zum Abendessen kamen, wohnen direkt gegenüber den Cascine am anderen Arno-Ufer. Mena hatte arrangiert, dass ich nicht durch die versmogte Stadt zurücklaufen musste und von den beiden mitgenommen wurde. So war ich das erste Mal bei ihnen zu Hause und genoss eine kühle Dusche mit Arno-Blick. Wirklich sehr nette Wohnung….

Ich merke schon, heute wird‘s viel!

Zur Cena kam auch noch Francesco, der junge Mann, der mir in den nächsten Wochen Italienisch beibringen wird. Moment, habe ich junger Mann gesagt? Der ist ja schon ein alter Sack. Ich dachte, der wär‘ ein Student! Dabei ist er ein ehemaliger Arbeitskollege von der Bruna und fast genauso alt. Na, die beiden verstehen sich jeweils prächtig. Meines Erachtens ist er hochgradig schwul und erinnert mich stark an einen Professor des Bauingenieurwesens in Köln. Aber ich will mich nicht beschweren, der macht ‘nen sehr sympathischen Eindruck. Am Samstag will er mich mit ein paar seiner Freunde ans Meer mitnehmen und danach mit uns Italien auf Großleinwand gucken. Klingt doch gut.

So saßen wir sechs also auf der Terrasse mit Domblick (Nee, nee Marie, ist das nicht schön! … Fehlt bloß noch vom Balkon, die Aussicht auf den Dom) und ließen es uns gut gehen. Bruna hatte den Primo Piatto „Pasta con Sugo alle Verdure“ mitgebracht, und Mena den Secondo „Schnitzel e Fenchel fritti con Zucchine al forno“ und den Terzo „Pesce à vino biancho e torta di fragole“ vorbereitet. Dazu gab‘s Vino Rosso und hinterher einen Limoncello und einen Caffè. In Italien gehört Essen zum Leben dazu und man isst nicht einfach irgendwie. Selbst gestern beim Abendessen zu dritt fragte mich die Mena, ob ich wirklich schon nach dem Primo Piatto (Pasta) genug hätte und war erst zufrieden, als ich noch etwas Mozzarella und Salame gegessen hatte. Als ob in Deutschland jemand fragen würde, ob man wirklich schon nach den Nudeln genug hätte und ob man den Hauptgang wirklich verschmähen wollte.

So sieht‘s aus! Jetzt hab ich fast zwei Stunden geschrieben und es ist schon Freitag. Noch ein bisschen Lesen und dann bis um zehn pennen. Ich freu mich auf die kommende Zeit! Gute Nacht!