„Deutschland geht es gut – das ist ein Grund zur Freude“

Ja, liebe Frau Dr. Merkel, in Ihrem Paralleluniversum sieht es in Deutschland wirklich töfte aus: „Die Verteilungsgerechtigkeit: Überdurchschnittlich!“ „Das Armutsrisiko: Unterdurchschnittlich!“ So steht es plakativ auf der Homepage Ihrer Partei. In Ihrem Paralleluniversum, Frau Merkel, steht das auch genauso in Ihrem Armutsbericht drin. [1], [2], [3]

In meinem Universum wurde der Armutsbericht 2013 allerdings von Ihrer Regierung geschönt.

Genau die Punkte, die Frau Merkel auf Ihrer Homepage positiv hervorhebt, wurden im ursprünglichen Armutsbericht eigentlich negativ erwähnt. Der Reichtum in Deutschland ist in der Realität nicht gerecht verteilt und das Armutsrisiko steigt von Jahr zu Jahr für immer mehr Menschen in Deutschland. Aber um wiedergewählt zu werden kann man die Realität einfach mal streichen und das Gegenteil behaupten. Papier ist bekanntermaßen sehr geduldig. [3], [4]

Deshalb will Mutti ja auch nichts ändern. „Ganz grundlegend neue Sozial- und Wirtschaftsreformen brauchen wir nicht“, sagt sie wörtlich auf Ihrer Homepage und lobt die menschenverachtende Agenda 2010 rund um Hartz IV, die einst die Sozialdemokraten einführten. In ihrem Paralleluniversum geht es den Menschen in Deutschland durch diese Agenda ja auch viel besser als vorher. [1], [2], [5]

Andererseits widerspricht sich Frau Merkel selbst. Auf den gleichen Seiten, auf denen steht, dass das Armutsrisiko gering sei, ist auch zu lesen, dass „die Bundeskanzlerin der besonders in den neuen Bundesländern erhöhten Gefahr von Altersarmut durch Lohnsteigerungen und Rentenangleichungen entgegenwirken will.“ Und dazu behauptet sie auch noch frech: „Da ist schon viel passiert.“ [1], [2]

Passieren tut leider nichts und die Tatsachen sehen tatsächlich beunruhigend aus. Erst diese Woche veröffentlichte das statistische Bundesamt u.a. die neuesten Zahlen bezüglich der Altersarmut in Deutschland. Jeder 30. Mensch über 64 ist entweder schon arm oder akut von schwerer Armut bedroht, in den neuen Bundesländern sogar jeder sechste Mensch, vor allem Frauen. Von „milder“ Armut sind sogar noch mehr Menschen betroffen. Erhebungen gehen von bis zu 20%, also jedem fünften Deutschen über 64 aus. [6], [7], [8], [9]

Armutsrisiko nach Altersstufen

Armutsrisiko in Deutschland nach Altersgruppen (Angaben in Prozent)

Auch die Jugendarmut hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Schlimmer noch als bei alten Menschen sind vor allem junge Menschen von Armut bedroht. Jedes vierte (!) Kind zwischen 10 und 17 Jahren ist davon betroffen. Man muss keine Studie lesen, um zu ahnen, dass diese Kinder es schwerer als ihre Altersgenossen haben werden, gesund zu leben, Liebe zu erfahren und weiterzugeben oder persönlich und beruflich erfolgreich zu werden. [7], [8], [9]

Fakt ist: Arme Menschen leben kürzer als reiche Menschen. Experten gehen von einer durchschnittlichlich geringeren Lebenserwartung von fünf Jahren aus. Fakt ist auch, dass arme Menschen häufiger in einem gewaltausübenden Umfeld aufwachsen, sich mit Gewalt sozialisieren und dementsprechend später auch häufiger und brutaler Gewalt anwenden. Und ebenfalls Fakt ist, dass arme Kinder in etwa zu einem Drittel seltener aufs Gymnasium gehen als reiche, und das unabhängig davon, ob ihre Eltern gebildet sind oder nicht. [10], [11], [12]

Aber wer gilt in Deutschland eigentlich als arm? Sind wir im Vergleich zum Rest der Welt nicht alle reich?

131022_Textbox_ArmutJa, das stimmt. Im europa- und weltweitem Vergleich geht es den armen Menschen in Deutschland verhältnismäßig gut. Es gibt in Deutschland nur eine sehr geringe „absolute“ Armut, wie es im Fachjargon heißt. Es muss also so gut wie niemand bei uns etwa von einem Dollar am Tag leben oder fürchten, verhungern oder verdursten zu müssen. [7], [8]

Dafür müssen wir in Deutschland mit einer vergleichsweise sehr hohen „relativen“ Armut leben. Tendenz steigend. Von Armut bedroht sind in Deutschland mehrere Millionen Menschen. Die Folgen sind Mangelernährung, hohe Krankheitsanfälligkeit, Bildungsdefizite, soziale Isolation, erhöhtes Gewaltpotenzial, Suchtprobleme. Auch bei Menschen, die noch gar nicht arm sind. Allein die Angst vor der Armut kann zu den genannten Symptomen führen. [7], [8]

Armutsrisiko von 1990 bis 2012

Relative Armut in Deutschland von 1990 bis 2012 (Angaben in Prozent)

Ein deutschlandweiter, tarifunabhängiger Mindestlohn sollte bei dieser Faktenlage eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Wenn ein Mensch von seiner Arbeit auskömmlich leben kann, verliert dieser seine Angst vor Armut, verfällt nicht in die oben genannten Armutssymptome und wird Zeit seines Lebens vermutlich nicht von Armut betroffen sein. Deutschland ginge es gut und das wäre tatsächlich ein Grund zur Freude.

Aber!

Ein Mindestlohn allein kann niemals reichen, wenn es nicht genug Arbeit für alle arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen gibt. Verdienen die Arbeitsnehmer zukünftig auskömmlich – aber es gibt noch immer eine hohe Arbeitslosenquote – so wird die Angst vor Armut lediglich durch die Angst vor Arbeitslosigkeit ersetzt. Durch die wiederum Armut drohen kann, wenn kein neuer Job gefunden wird. Die Symptome bleiben. Dass der Mindestlohn selbst zu einer hohen Arbeitslosenquote führt ist allerdings totaler Quatsch. [13]

Dennoch darf der flächendeckende Mindestlohn nur als Übergangstechnologie eingesetzt werden. Langfristig müssen aber ganz neue Mechanismen eingeführt werden, die den Menschen ihre Angst vor Armut vollständig nehmen können. Niemand in Deutschland – einem der wirtschaftsstärksten Ländern der Welt – darf Angst vor Armut haben oder tatsächlich von Armut bedroht sein!

Ja, liebe Frau Dr. Merkel, eine grundlegend neue Sozial- und Wirtschaftsreform muss also doch her!

Ob das Endergebnis nun „Bedingungsloses Grundeinkommen“ heißt oder nicht. Ob die Menschen zukünftig einen gesicherten auskömmlichen Grundbetrag vom Staat erhalten sollen oder nicht. Ob diese Reform von Konservativen, Liberalen oder Sozialisten eingeführt wird oder von noch jemand anders. Das alles ist völlige Nebensache.

Ich wiederhole mich da gerne: Niemand darf Angst vor Armut haben! Niemand darf von Armut bedroht sein!

Wenn wir das nicht akzeptieren sondern stattdessen hinnehmen, dass es arme Menschen in unserer Gesellschaft gibt, dann wird es immer einen Klassenkampf geben. Und wir werden immer nur weiter an den Symptomen der Armut arbeiten statt das Übel an der  Wurzel zu packen und zu eliminieren.

Quellen und Leseempfehlungen:

[1] Angela Merkel: Deutschland geht es gut (CDU)
[2] PDF: Flugblatt Studien (CDU)
[3] Armuts- und Reichtumsbericht 2013 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales)
[4] Einkommensverteilung in Deutschland: Bundesregierung schönt Armutsbericht (Süddeutsche Zeitung)
[5] Zehn Jahre HartzIV: Lob aus der CDU (Augsburger Allgemeine)
[6] Altersarmut: Zahl der Empfänger von Grundsicherung auf Rekordstand (Spiegel)
[7] Armut in Deutschland (armut.de)
[8] Armut in Deutschland (tafel.de)
[9] Deutsches Institut für Wirtschaft
[10] Lebenserwartung: Arme sterben fünf Jahre früher als Reiche (Spiegel)
[11] Kinder aus armen Familien häufiger Opfer von Gewalt (Spiegel)
[12] Armut verbaut Bildungschancen (Hans-Böckler-Stiftung)
[13] Ausbildung hilft, Mindestlohn schadet nicht (Hans-Böckler-Stiftung)
[14] Mittleres Einkommen (Wikipedia)

2 Gedanken zu „„Deutschland geht es gut – das ist ein Grund zur Freude“

  1. Michael

    Wenn man wie ich im Ausland lebt in einem ärmeren Land, in meinem Fall Kenia, dann sieht man einiges anders und so sage ich, die Probleme müssten die hier haben, dann wären die aber froh.

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  2. Web Hosting

    Aber man stehe vor der Frage, ob man versuchen wolle, mit den Mitteln der sozialen Marktwirtschaft die Welt zu gestalten, oder ob man sich auf sich selbst zuruckziehen wolle. Sie sei „nicht froh“, dass der kunftige amerikanische Prasident Donald Trump das amerikanisch-asiatische Handelsabkommen TTP aufkundigen wolle.

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